Blog '66

Über die Wiedergeburt des Blog '66 und die Verzweiflung eines Suchenden

Dieser Text entstand im Februar 2018. Die Idee lebt noch, aber ich möchte zunächst meinen eigenen Blog doch nicht fortsetzen.

Zehn Jahre lang - von etwa 2005 bis 2015 - schrieb einen Blog mit dem Namen Blog '66 bei twoday.net. Der Blog wurde zu einem Sammelplatz für Beiträge zu allen Interessensgebieten, vom Banjo über den arabisch-amerikanischen Dialog bis zu Reisen und Wissenschaft. Die meisten Beiträge erschienen in englischer Sprache. Mit der Zeit wurden die Beiträge allerdings seltener und irgendwann hörte ich ganz auf, meine Gedanken dort zu posten. Jetzt habe ich den Blog archiviert und einige wenige Postings hier im online-Arhive online gelassen. Der Hosting-Service twoday.net wird im Mai dieses Jahres verschwinden. Es ist also Zeit, Abschied zu nehmen. Der Historiker und Nostalgiker in mir wollte auf jeden Fall alles archivieren. Es darf nichts ganz verloren gehen, egal wie trivial, egal wie peinlich manche Beiträge inzwischen erscheinen.

Aber ich verspüre auch in letzter Zeit auch wieder ein Mitteilungsbedürfnis. Gleichzeitig suche ich seit einigen Jahren nach einem Ort, wo man die Diskussionskultur, die ich in den amerikanischen Podcast-Medien so schätze, auch in deutscher Sprache finden kann. Am Liebsten würde ich diese zwei Dinge zusammen an einem Ort finden - einen Verein, eine Stiftung, einen Sender-mit-Blog - irgendetwas irgendwo - wo es höfliche, ergebnisoffene Diskussionen und Beiträge gibt und wo ich evtl. auch hin und wieder Beiträge schreiben oder evtl. sogar sprechen könnte. Ich wäre in deutscher Sprache gewiß kein guter Podcaster. Aber schriftlich müsste es doch gehen.

Nun habe ich vor ein paar Jahren die Stresemann Stiftung e.V. gefunden. Sie schien etwas eingeschläfert zu sein, bot aber eine gute Mischung aus liberalen (und ich suche Diskussionen zu einer möglichst breiten Auffassung des Liberalismus) und konservativen Ansichten. Ich habe mich zwar nicht weiter darum gekümmert, aber diesen Ort im Hinterkopf behalten. Jetzt habe ich mir gedacht, ich könnte wieder schauen. Was finde ich? Die Stresemann Stiftung ist "AfD-nahe" und "rechtsnational" (so Wikipedia).

Jetzt sehe ich auf der Seite zur Stresemann Stiftung e.V. keine neueren Beiträge. Die Seite ist oder stellt sich seit etwa 2014 tot. Dort ist offenbar auch niemand willens oder in der Lage, am Wikipedia-Eintrag mit zu Schreiben. Ich kenne aus meiner Zeit bei den Historians Against the War, dass es sehr schwer für die Mitglieder sein kann, die Inhalte einer Wikipedia-Seite zu einem Verein mitzubestimmen. Oder die Stiftung bekennt sich dazu, was da steht. Auf der Seite der Stiftung selbst ist aber von einem gefährlichen rechten Nationalismus nichts zu vernehmen. Im Gegenteil, ihre Vision ist ein klares Bekenntnis zu einer freiheitlich-liberalen Position. Sie ist nur deswegen "radikal", weil sie "liberaler" ist als jedwede Parteiprogramm irgendeiner im Bundestag vertretenen Partei.

Es mag irgendwo auf der Seite der ihres Blogs Citizen Times irgendwo Texte geben, die ich bisher übersehen habe. Aber zunächst ist das radikalste, dass ich finden kann, folgende Aussage aus der Präambel der Stiftung: Eine zentrale Aufgabe der Stiftung wird darin bestehen, die deutsche Geschichte zu retten, bevor der Zeitgeist sie vollends zerstört und zur Vorgeschichte der NS-Diktatur erklärt hat. Das wirkt schlimmstenfalls etwas paranoid oder, wenn man will, etwas "populistisch". Man stellt die Welt so dar, als ob alle daran wirken, die Geschichte Deutschlands auf die NS-Zeit zu reduzieren. Linke und Rechte machen gerne ihre Gegner oder den "Zeitgeist" zu einer Bedrohung (Linke reden von einem angeblichen bescchwören gerne einen "Rechtsrück" oder die "Neoliberalen Weltordnung"), um dann selber zu punkten. Ich sehe zwar kein Komplott, die deutsche Geschichte auf die NS-Zeit zu reduzieren. Im Gegenteil - bereits vor 20 Jahren zeigte die Goldhagen-Diskussion deutlich, dass der Versuch, die Deutschen zum universellen Bösen zu erheben, auch in Deutschland auf Widerstand stoßt. Auch die These vom deutschen "Sonderweg" ist seit einiger Zeit in Verruf. Aber ich halte den deutschen Umgang mit der eigenen Vergangenheit auch für etwas problematisch - ein gutes Thema für einen zukünftigen Beitrag an dieser Stelle.

Was geht hier vor? Ist meine Wahrnehmung so verkorkst, dass ich "radikales" Gedankengut nicht erkenne? Habe ich es einfach versäumt, tief genug in die Seite vorzudringen? Habe ich mich von der "liberalen" Oberfläche ködern lassen? Ist das Freiheitliche in Deutschland die Einstiegsdroge für Neonazis? Ist etwa John Stuart Mill der Anfang, dem es zu wehren gilt? Oder ein bisschen Patriotismus - für Deutschland vielleicht allein als das Fehlen eines gebetsmühlenartigen Schuldbekenntnisses zu erkennen?

Genau hier liegt das Problem, das mich so bewegt. Wo reden Linke und Rechte, Liberale und Konservative und Sozialisten höflich und ergebnisoffen miteinader? Wo kann ich mich einbringen, ohne, dass der Ort mit Diffamierungen vergiftet wird? Was riskiere ich, wenn ich trotz der Diffamierungen mitmache? Wo gehöre ich hin in dieser nur begrenzt diskursfähigen, polarisierten und vergifteten Medienlandschaft?



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